Eine Aneinanderreihung problematischer Narrative

„Mir wurde gesagt, wenn man die Diagnose will, dann bekommt man sie auch!“

Das sagte ein Familienmitglied zu mir, als ich vor mehr als fünf Jahren meinen ADHS-Verdacht äußerte. Dieses Familienmitglied hat mich immer als Sturkopf gesehen, das halt einfach „anders“ war. Aber eben nicht „anders genug“, um ADHS zu haben. Auch noch kurz nach meiner Diagnose musste ich mir den Satz „Wer weiß, ob es dieses ADHS überhaupt gibt?“ gefallen lassen. Warum sich meine Familie so vehement gegen „Das Kind hat ADHS“ gewehrt hat? Die Antwort wissen sie wahrscheinlich selbst nicht mehr so genau. Dass ich unter anderem hörte, dass ich damit doch nur meine Unzulänglichkeiten erklären wolle, um mich auf der Diagnose ausruhen zu können, lässt mich allerdings auf eine bestimmte Haltung schließen – und mit dieser Haltung wurde ich Ende letzten Jahres wieder konfrontiert. Nicht von meiner Familie, nicht beim Weihnachtsessen, nicht bei einem runden Geburtstag eines:einer Verwandten, sondern – auf der Instagram-Seite einer renommieren Zeitung.

 

Wollen sich die Fehlerhaften nur herausreden?

Die Zeit postete am 9. Dezember einen Beitrag mit dem Titel „Das muss doch ADHS sein, oder?“ auf ihrer Instagram-Seite. Es folgten Ausschnitte eines Artikels, indem die Autorin – Kati Krause – von ihrer ADHS-Vermutung, die sich schlussendlich doch nicht bestätigte, berichtete. Ein legitimes Anliegen, über das gut und gerne geschrieben werden darf und auch sollte – allerdings nicht so, wie es Kati Krause getan hat.

Skeptisch wurde ich schon, als mir das letzte Zitat des Beitrags ins Auge sprang: „Und die Depressionen? Wer weiß das schon. Meine Fehler und Schwächen sind Dinge, für die ich keine Verantwortung abgeben kann.“ Eine schwierige Aussage. Sind Schwächen und Fehler schuld an Depressionen? Ist es wieder dieses Narrativ? Das ließ mich nochmal genauer hinsehen: Da stand etwas von Smartphones, dem Internet und einer Psychiaterin, die nach bereits zehn oder zwölf Fragen den Diagnoseprozess abbrach. Ungläubig las ich die Slides nochmal durch, dann nochmal, dann die Kommentare. Ich musste feststellen, dass eine Dame, die sich wohl sehr spitzfindig und erhaben fühlte, den ganzen Austausch auf Instagram dafür verantwortlich machte, es als Trend titulierte und Menschen, die unter ihrer Symptomatik Leidensdruck verspürten, unterstellte anderen die Diagnose-Termine wegzunehmen. Also den „richtigen“ Betroffenen…die auch vorher nicht wirklich wissen konnten, ob sie ADHS haben…Wir müssen das jetzt nicht intensiver auseinanderpflücken, ihr wisst, worauf ich hinaus will. Besser wurde es auch nicht, als eine bekanntere Buchautorin, die selbst Adhslerin ist, zu diesem Kommentar applaudierte. Besser wurde es auch nicht, als ich endlich den kompletten Artikel las – es wurde einfach richtig schlimm.

 

Eine Aneinanderreihung problematischer Narrative

Kati Krause berichtet davon, wie sie herausfand, doch kein ADHS zu haben, obwohl sie das anfangs glaubte. Sie erzählt, wie sie eher zufällig auf einen Artikel stieß, von dem sie sich angesprochen fühlte. Für ihre Depressionen hatte sie nie eine Ursache finden können und ihr wechselhafter Lebenslauf schien für sie wohl auch eine weitere Bestätigung zu sein da weiter nachzuforschen. So weit, so gut - so logisch, so legitim. Das ist eigentlich ein ganz normaler Prozess, den man durchläuft, wenn man als erwachsene Person ADHS bei sich vermutet. Allerdings schwingt in dieser Beschreibung ein ganz bestimmter Unterton mit: Eine Erklärung für das eigene Fehlverhalten suchen. Und dieses „Fehlverhalten“ sieht wie folgt aus: müde und erschöpft sein, keine Karriere und keine super sicheren Finanzen und eine wiederkehrende Depression. Was daran jetzt genau Fehlverhalten sein soll, wird nicht sonderlich ersichtlich – aber irgendwas muss man sich wohl aus der Nase ziehen, wenn man dieses Narrativ nutzt. Gelungen ist es nicht besonders.

Verstärkung bekommt Kati Krause von der Psychiaterin, bei der sie versucht eine ADHS-Diagnose „zu bekommen“. Sie beschreibt ihn wie folgt: Sie hatte Fragebögen zuhause ausgefüllt, die sie als vage beschreibt. Die Psychiaterin stellt ihr allerdings nur „zehn oder zwölf Fragen“, die konkreter gewesen sein sollen. Es geht um Flüchtigkeitsfehler oder um den Verlust von Gegenständen – also ums Klischee. Nachdem diese Fragen alle mit nein beantwortet wurden, wird der Diagnoseprozess abgebrochen. Die Psychiaterin ist sich sicher: Kati Krause hat kein ADHS.

Dieser Prozess macht mich stutzig. Ich weiß, dass der Diagnoseprozess oft sehr unterschiedlich ausfällt, aber dieser hier war sehr unintensiv und – auch wenn die Autorin es vielleicht anders sieht – wirklich vage. Hat sie nicht nach den Grundschulzeugnissen gefragt? Was war mit der Fremdanamnese? Gab es keine langen auslaugenden Fragebögen, bei denen man ständig das Gefühl hat, sich selbst zu widersprechen? Hätte Frau Krause nicht auch noch von negativ ausfallenden Online-Fragebögen oder fehlenden Hinweisen auf Grundschulzeugnissen gesprochen, hätte ich ihr vermutlich empfohlen, nochmal Rücksprache mit einem:einer anderen Expert:in zu halten. Denn wenn ich ihn mit meinem Diagnoseprozess vergleiche, der zwei Termine, zwei Fremdanamnesen, ein Interview und einen sehr langen und herausfordernden Fragebogen enthielt, ist der im Artikel beschriebene doch eher wie ein Schluck Wasser zwischen Tür und Angel.

Nachdem Kati Krause dann ihre sichere Nicht-Diagnose hatte, ließ die Fachfrau dann verlauten, dass ja zurzeit alle ADHS hätten. Also das gute alte „Trend“-Narrativ, das immer aufkommt, wenn manifestierte Überzeugungen durch ein Phänomen sehr hart in Frage gestellt werden und dann allgemein versucht wird, es einfach mit dem Argument des Trends zu delegitimieren. Trotzdem die Psychiaterin davon spricht, dass sehr viele Menschen, die beispielsweise wegen Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen in Therapie wären, eigentlich ADHS hätten, meint sie, dass es Menschen gäbe, die damit ihren gescheiterten Lebenslauf oder (hier haben wir es wieder) ihr Fehlverhalten erklären wollen. Sie lässt auch wieder das Übliche verlauten: Die Menschen hätten irgendwas in den sozialen Medien oder bei arte darüber gesehen und würden dann glauben das zu haben. Wie die E-Mails wirklich formuliert sind, die die Ärztin erreichen, lässt sich natürlich nicht überprüfen, aber ich bezweifle, dass ein Großteil der Menschen nach einem Fernsehbeitrag schon zur Psychaterin rennt und insgeheim hoffe ich, dass diese Aussagen nur einen sehr kleinen Teil des Interviews abbilden, das die Autorin dann später mit ihrer Ärztin für ihren Artikel führte.

Ich weiß, worauf man mit solchen Aussagen hinaus möchte – man sollte nicht wirklich immer davon ausgehen irgendwas zu haben, nur weil das Leben nicht perfekt läuft. Aber darin schwingt auch mit: „Du hast es selbst verbockt, sieh es bitte ein.“ Eine problematische Message, vor allem wenn es um Menschen geht, die lange Leidensdruck mit sich herumtragen und oft von allen Seiten immer wieder relativiert werden. So ging es mir selbst jahrelang. Ich erinnere mich daran, als Teenager immer wieder recherchiert zu haben, weil ich immer wieder das Gefühl hatte „es ist was“. Das wurde belächelt, immer wieder und wurde gerne mit „Du bist für deine eigene Misere selbst verantwortlich“ gespickt. Ich fühlte mich oft hilflos, nicht passend, als wäre ich das allerkomischste Puzzleteil der Welt für das es einfach kein passendes Puzzle gibt. Es wurde mir so ausgelegt, dass ich mich „zu besonders“ fühlte. Ich stand auch oft vor Herausforderungen, die für andere keine Herausforderungen waren und mir wurde einfach gesagt, ich solle mich mehr anstrengen. Ich erinnere mich daran, wie ausweglos sich oft alles für mich anfühlte und dass das phasenweise Funktionieren meines Lebens - auch von mir selbst – als Beweis dafür hergenommen wurde, dass ich einfach nur eine faule Prinzessin auf der Erbse bin, die eigentlich könnte, wenn sie denn nur will.

ADHS ist prädestiniert für Relativierungen. Weil ADHS nach Ausrede klingt. Oberflächlich gesehen. Und mehr wissen die Menschen darüber auch nicht. Sie denken, man ist vergesslich, schusselig, unorganisiert und prokrastiniert gerne krankhaft. Das ist das Wissen, das der Ottonormalverbraucher hat und so glaubt er sehr wahrscheinlich, dass dieses „Verhalten“ nur in seltenen Fällen nicht selbstverschuldet ist, denn der Irrglaube, dass der Mensch es sich gerne sehr bequem und einfach macht, sitzt tief. Gerade deswegen ist es wichtig, sich mit dem Trend-Narrativ zurückzuhalten – es ist genauso wenig haltbar, wie sich nach einem kurzen TikTok-Video betroffen zu fühlen und es ist nicht ganz ungefährlich. Es kann dazu führen, dass Menschen jahre-, jahrzehntelang mit ihrem Leidensdruck herumlaufen, sich damit dem Risiko aussetzen, eine oder mehrere Komorbiditäten zu entwickeln, suizidal zu werden und Vieles mehr.

Ein weiteres Narrativ, welches mir im Artikel sauer aufstößt ist „die ADHS-Diagnose als Auszeichnung oder Befreiung“. Auch das wird von der Psychiaterin angesprochen.

Allerdings scheint hier ein Missverständnis vorzuliegen, das bei einer Fachfrau eigentlich nicht vorkommen sollte: Nur weil man sich über eine Diagnose freut, heißt das noch lange nicht, dass man es als „Auszeichnung“ behandelt. Man ist einfach nur froh, dass man sich endlich auf eine adäquate Weise mit den eigenen Problemen auseinandersetzen kann – und man ist erleichtert, endlich anerkannt zu sein. Dass eine Psychiaterin das zynisch kommentieren muss, finde ich ehrlich gesagt ziemlich unangemessen. Sie müsste doch am Allerbesten wissen, dass endlich Klarheit zu haben eine wirkliche Befreiung sein kann. Und sie müsste am Besten wissen, worum es eigentlich geht. Allerdings möchte ich mich hier nicht auf die Psychiaterin einschießen, denn ich weiß nicht, wie das Gespräch in der Realität aussah und wie diese Aussagen wirklich gemeint waren.

Auch der stellvertretende Vorsitzende von ADHS Deutschland e.V., Dr Johnnes Streif wird im Artikel zitiert. Schade, dass ein Psychologe, der sich in einem Verein gegen die Stigmatisierung von ADHS einsetzt, davon ausgeht, dass Menschen sich „beim Arzt auf eine bestimmte Weise präsentieren, um diese Diagnose zu bekommen“. Das ist genau das Stigma, mit dem ich auch zu kämpfen hatte, als meine Vermutung schärfere Umrisse bekam. Alle dachten, ich gehe jetzt zum:zur Psychiater:in und tische schön auf was passt, um eine Erklärung für meine ganzen „Fehler“ zu haben. Es waren teilweise wirklich unschöne Gespräche, die ich mit Freund:innen und Familie zu führen hatte. Erschreckend, dass man sowas dann Jahre später immer noch lesen muss – von einem Verein, der eigentlich gegen Stigmatisierung vorgehen möchte. In diesem Zuge wird die „Debatte um Neurodiversität“ angesprochen, „[…] die Störungen wie ADHS weniger als Krankheit und mehr als eine natürliche Form des Anderssein betrachten will.“ Ob Johannes Streif dies explizit so erwähnt hat, oder ob Kati Krause dies einfach leichtfertig formuliert hat, sei mal dahingestellt – es ist allerdings einfach nicht ganz richtig ADHS einfach wieder als Krankheit zu bezeichnen. Ein Vereinskollege von Johannes Streif, Prof Dr Ludger Tebartz van Elst, hat darüber sogar ein ganzes Buch geschrieben*, in dem er sich sehr intensiv mit der Definition von „Krankheit“ auseinandersetzt und zu dem Schluss kommt, dass ADHS als Normvariante, beziehungsweise „Strukturiertheit“, als auch im Sinne einer Persönlichkeitsstörung, oder einer klassischen neuropsychiatrischen Erkrankung begriffen werden kann. Der Krankheitsbegriff lässt sich allerdings nur auf die sekundäre ADHS anwenden – und hier geht es um die primäre. In Fachkreisen gibt es diese Überlegungen, ob es sich um eine Krankheit im klassischen Sinne handelt, also schon länger.

Und Johannes Streif macht hier noch einen Fehler, ich zitiere jetzt mal direkt aus dem Artikel:

„Zum einen gebe es viele Vereinsmitglieder, die ADHS nicht als ihre Identität betrachten wollen, weil sie damit nichts Positives verbinden. Auch fürchten Streif und seine Kollegen, dass ADHS und andere Störungen nicht mehr als behandlungsbedürftig angesehen werden, wenn man sie normalisiert.“

Das ist ein Denkfehler, den auch ich lange gemacht habe – ich leide darunter und deshalb ist es ein Problem. Der Leidensdruck kommt aber nicht nur aus mir selbst heraus, sondern zu einem guten Teil auch aus der Gesellschaft. Eine Normalisierung von ADHS-Eigenschaften wäre also eigentlich wünschenswert – eben auch, um den Leidensdruck von Menschen mit ADHS etwas zu minimieren und um Komorbiditäten weniger Spielraum zu bieten. Diesem Thema hat van Elst in seinem Buch über ADHS, Autismus und Tics auch ein kleines Unterkapitel gewidmet. Ein paar Seiten davor beschreibt er Persönlichkeiten als Analogie zu einem „Orchester des Lebens“:

„Die Lebensmusik, die wir machen können, ist abhängig von unserer Persönlichkeit, unserem Körper, der uns nun einmal schicksalshaft gegeben wurde. Um aber eine möglichst schöne Musik machen zu können, sollte man wissen, ob man eine Geige Posaune oder Harfe ist.“

Heißt es darin. Eine wirklich sehr treffende Beschreibung, die vielen Menschen mit ADHS dabei helfen könnte, ihre Disposition besser für sich einzuordnen und sich auch entsprechend daran zu orientieren.

Er berichtet allerdings – im eben erwähnten Unterkapitel – auch davon, dass er bei Vorträgen für sein Verständnis und seiner Haltung dazu auf Widerstand stößt und das eben auch von der „betroffenen Seite“. Auch hier geht es um die Angst, dass Unterstützung entzogen werden und die Last der Symptomatik nicht mehr mit einer Behandlung verringert werden könnte. Aber darum geht es bei einer Differenzierung des Erkrankungsbegriff auch gar nicht. Denn es geht hier um die radikale Akzeptanz der eigenen Voraussetzungen, die sehr heilsam sein kann und auch darum, die richtigen Strategien zu finden, um endlich Selbstwirksamkeit zu erleben.

„D.h., die Flöte muss ihre Struktur erkennen und lernen und akzeptieren. Sie muss ihre Struktur nicht ändern. Das kann sie nicht und soll sie auch nicht. Das ist nicht ihre Lebensaufgabe. Die Hilfe der Therapie könnte an dieser Stelle vielmehr darin bestehen, die Struktur zu erkennen. Sie sollte erhellen, um welches Instrument es sich da handelt und welche Musik mit diesem Instrument möglich ist.“, statuiert van Elst außerdem in seiner Orchester-Analogie.

Schade, dass dieser Denkfehler seitens Herrn Dr. Streif gemacht wurde. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass man mit jeder Zeile mehr das Gefühl hat, es geht hier eher um die ach so schlimmen Menschen, die angeblich ihr Fehlverhalten erklären wollen und dass es zu Viele von ihnen gibt. Wenn man Dr Johannes Streif mal recherchiert, findet man auch sein Profil auf der Webseite von ADHS Deutschland e.V. – auch dort wird er zitiert, da heißt es allerdings:

Ich betreue im Vorstand des ADHS Deutschland e.V. auch den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Medial vermittelte Informationen spielen in unserer Gesellschaft eine immer größere Rolle. Es ist wichtig, dass die von der ADHS betroffenen Menschen und ihre Familien eine Lobby im eigentlichen Sinne des Wortes haben: einen Raum zum gemeinschaftlichen Austausch, ein Forum zum Zuhören und Gehörtwerden. ADHS ist nicht nur eine Störung, sondern eine Disposition – eine Anlage zum Leben. Es liegt an uns und der Gesellschaft, in der wir leben, was wir aus dieser Anlage machen. Auch DHast Stärken!“

Das hört sich irgendwie ganz anders an als im mir vorliegenden Artikel. Entweder haben da zwei Menschen im Interview komplett aneinander vorbeigeredet, oder es fehlt ein Kontext, der im Artikel keine Beachtung findet. Ich werde jedenfalls nochmal bei ADHS Deutschland e.V. nachfragen.

 

Und dann auch noch das Märchen mit der Mediennutzung!

Das Schlimmste an diesem Artikel kommt erst zum Schluss. Die letzte Unterüberschrift titelt: „Smartphones könnten bei gesunden Menschen sogar ADHS auslösen“. Wir erinnern uns: Der Artikel ist von 2022. Dass Medienkonsum ADHS auslösen kann, ist längst widerlegt, aber da wir uns in einer Aneinanderreihung problematischer Narrative befinden, darf das natürlich nicht fehlen! Kati Krause stützt sich da auf eine Aussage des Neurobiologen Andrew Huberman. Er hat in seinem Podcast lediglich die Frage aufgeworfen, ob die steigende Anzahl an erwachsenen mit ADHS darauf zurückzuführen sei, dass digitale Technologien ADHS auslösen. Meiner Meinung nach auch eine Aussage, die man als Fachperson nicht leichtfertig in den Raum werfen kann, denn dass sich ADHS im Erwachsenenalter nicht einfach so entwickeln kann, ist eine feststehende Sache (die man ziemlich leicht ergoogeln kann).

Ich frage mich auch, wie ein Neurobiologe auf eine solche Frage kommt, gerade wenn er doch weiß, dass viele Betroffene falsch oder gar nicht diagnostiziert wurden – denn Menschen mit ADHS – und das kommt hier noch zur Sprache – neigen zu übermäßiger Mediennutzung. Das können Interessierte hier aber gerne nachhören.

Zur Mediennutzung habe ich etwas recherchiert und wie die Autorin selbst schreibt: Für diese These gibt es keinerlei wissenschaftliche Beweise. Es ist allerdings – und das sage ich jetzt absichtlich so - wild, wie eine gewisse Studie, die die Mediennutzung in Verbindung mit ADHS-Symptomatik untersucht, interpretiert wird. Da titelt Sat 1 zum Beispiel ganz ungeniert „Starker Social Media Konsum kann ADHS auslösen“, was eine falsche Aussage ist. Punkt. Andere nennen es einfach „ADHS-Symptomatik“ und es geht – wie immer – um die Konzentration. Das Problem an der Sache ist, dass hier wieder Klischees ausgepackt werden, die nur ein oberflächliches Bild von ADHS aufzeigen und veraltete Narrative wieder salonfähig machen. Das ärzteblatt fasst zu dieser Studie übrigens zusammen:

„Auch in einer Langzeitstudie lässt sich nicht ausschließen, dass die ADHS am Anfang steht und die intensivere Nutzung der digitalen Medien die Folge der Erkrankung ist. Ein zentrales Kennzeichen der ADHS ist die Suche nach Ablenkungen, die sich durch die digitalen Medien leicht bedienen lässt (reverse Kausalität). Mediennutzung und ADHS könnten auch gemeinsame Wurzeln haben.“

Auch im „Handbuch ADHS“ das ich mir extra für diesen Zweck ausgeliehen habe, finden sich keine Vermutungen oder gar Beweise dafür, dass Mediennutzung in irgendeiner Art und Weise die Ursache für ADHS sein könnte.

Zum Abschluss wird natürlich noch der Leistungsanspruch kritisiert und dass er Dinge erst zum Problem werden lässt, aber das rettet diesen Artikel dann auch nicht mehr.

Reproduzieren von Stigmata hat Tradition

Die Zeit bekam sehr viel Kritik für diesen Artikel, gerade von Betroffenen. Leider habe ich nicht mitbekommen, dass sich dazu in irgendeiner Weise geäußert wurde und das hätte eigentlich sein müssen, denn gerade das wieder neue Reproduzieren des Märchens mit dem Medienkonsum ist sehr problematisch.

Außerdem baut Frau Krause ihren Artikel auf einem Stigma auf: Menschen „haben auf einmal alle ADHS“, um ihr Fehlverhalten zu entschuldigen.

Dieses Stigma begegnet ADHS-Betroffenen immer mal wieder – und das liegt nicht daran, dass Menschen, die Leidensdruck empfinden mit ihrer Vermutung zur Ärztin gehen, sondern eher daran, dass die breite Gesellschaft unaufgeklärt ist und vehement daran festhält, Menschen aufgrund ihres Funktionierens zu bewerten. Ehrlich gesagt – wenn es nach den meisten Menschen ginge – kann nur jemand betroffen sein, der:die lange genug bewiesen hat, dass er:sie funktioniert. Denn komischerweise denken so Viele immer noch, dass die Diagnose einer psychischen Erkrankung oder Neurodivergenz eine Art „Leistungserschleichung“ sei, mit der absolut alles sehr viel leichter wird. Das ist natürlich nicht korrekt so, aber Fakten sind den selbsternannten „kritischen Köpfen“ ziemlich egal, es geht ihnen darum in Frage zu stellen. Aber warum? Expertise? Wenn ich Expert:innen zu Rate ziehe, lese und höre ich eine komplett andere Haltung. Das eigene Ego? Erwachsen wirken? Intelligenter oder gebildeter wirken? Ich könnte hier einige Thesen aufstellen, aber ich würde mich nur wiederholen.

Betroffene schuldig zu sprechen, hat übrigens auch hier Tradition. Denn wenn jemand wirklich wem die Diagnose-Plätze „wegnimmt“, dann liegt das nicht an den Menschen mit Vermutung, sondern an der Struktur unseres Gesundheitssystems, das für Menschen mit psychischem Leidensdruck mehr Last als Hilfe ist. Dieser Aspekt spielt aber keine Rolle, wenn man feixend der unbeliebten Arbeitskollegin erzählen kann, dass ja gerade „alle ADHS haben”.

Vor ein paar Tagen hat uns die Zeit übrigens wieder gezeigt, dass sie gerne weiter Stigmata verbreitet: Yasmine M’Barek schrieb von „TikTok-Diagnosen“ und unterteilte in „richtige“ und „falsche“ Betroffene. Schön, wenn man möchte, dass Dinge fundiert sind, unschön, wenn dafür auf Unterstellungen und stigmatisierende Aussagen zurückgreifen muss und einer marginalisierten Gruppe keinen Raum zugesteht, die eigenen Interessen zu vertreten.

Mir zeigt das wiederum nur, dass immer noch keine Bereitschaft herrscht, sich mit dem Thema „psychische Erkrankungen“ oder „Neurodivergenz“ auseinanderzusetzen und dass es anscheinend unangenehm ist, wenn Betroffene sich nicht verstecken. Es gibt noch Einiges zu tun.

 

Quellen 

Kati Krauses Artikel: Das muss doch ADHS sein

Dr Johannes Streif: Vorstandsprofil ADHS Deutschland e.V.

Sat 1: Starker Social Media Konsum kann ADHS bei Jugendlichen auslösen

aerzteblatt.de: Jugendliche: Zusammenhang zwischen ADHS und Medienkonsum

Handbuch ADHS - Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung - 2. erweiterte und überarbeitete Auflage, Kohlhammer Verlag, 2020

Autismus, ADHS und Tics - Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit, Ludger Tebartz van Elst, 3. Auflage, Kohlhammer Verlag, 2022

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Wie mir der Alkohol zuwider wurde

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Unter Männern - Sexismus und ADHS